20 Jahre nach "Lothar": Durchzug im Wald

Am Morgen des 26. Dezember 1999 fegte der Orkan «Lothar» über die Schweiz und warf 12.7 Millionen Kubikmeter Holz zu Boden. Der Schaden am Wald betrug gegen eine Milliarde Franken, die Folgen der anschliessenden Borkenkäferbefälle eingerechnet. 20 Jahre danach beurteilen Forschende der Eidg. Forschungsanstalt WSL die Auswirkungen aber auch positiv. So sind von Natur aus in tieferen Lagen zumeist klimarobustere, artenreiche Laubmischwälder entstanden.

Über Jahrhunderte war der Waldbau die prägende Kraft im Schweizer Wald. Mit dem Orkan «Lothar» rückten ausserordentliche Naturereignisse als Waldgestalter ins öffentliche Bewusstsein: «Die Sturmböen veränderten die Wälder in wenigen Stunden stärker, als es Forstbetriebe in 2–3 Jahren tun», sagt der Waldökologe Thomas Wohlgemuth (WSL). Drei Jahre später folgte der Hitzesommer 2003. Der trocken-heisse Sommer schwächte viele Bäume, Millionen von Borkenkäfern befielen die unter der Trockenheit leidenden Fichten und raffte sie dahin. Bei späteren Stürmen, Kyrill (2007) sowie Burglind und Vaia (2018) kam die Schweiz gesamthaft gesehen zwar glimpflich davon, auch wenn die Nord- und Ostschweiz nochmals starke Schäden zu beklagen hatte. Der Trockensommer 2018 führte wieder zu verstärktem Borkenkäferbefall der geschwächten Fichten.

Sturmwürfe ziehen Borkenkäfer an

Wenn kräftige Stürme auf grossen Flächen Wälder umwerfen, folgen in fichtenreichen Beständen fast immer Borkenkäferkalamitäten. Nach «Lothar» zeigten Studien der ETH Zürich und der WSL, dass eine schnelle Räumung des Sturmholzes und die frühzeitige Nutzung von stehenden, mit Käfer besiedelten Fichten weiteren Befall reduziert. Räuberische und parasitische Insekten vermehren sich zwar schnell, wenn mehr Borkenkäfer vorhanden sind. Doch können diese Feinde der Borkenkäfer den Befall von Fichten nicht verhindern, nur bremsen. Der Insektenspezialist Beat Wermelinger (WSL) geht davon aus, dass der Klimawandel die Wälder in den kommenden Jahrzehnten noch anfälliger für Insektenbefall machen wird als bisher: «Im Schweizer Mittelland dürften sich dann häufig drei statt zwei Käfergenerationen entwickeln, welche geschwächte Fichten attackieren». Handkehrum zeigten langfristige Untersuchungen der WSL auch, dass die Insektenvielfalt in den ersten Jahren nach dem Sturm deutlich zunahm, mit fortschreitender Wiederbewaldung nahmen die Artenzahlen aber wieder ab.

Mancherorts blieb kaum ein Baum stehen

Wo «Lothar» am Stephanstag 1999 mit Geschwindigkeiten von 200 km/h und mehr wütete, blieb kaum ein Baum stehen.  Die Wirkung der Orkanböen war besonders gross, weil es während des Sturms relativ warm war, die Waldböden nicht gefroren waren und Regen die Böden aufweichte. Deswegen wurden Bäume häufiger mitsamt ihren Wurzeltellern umgeworfen als gebrochen. Zudem setzen hoch gewachsene Nadelbäume den stürmischen Winden grösseren Luftwiderstand entgegen als kleinere Laubbäume, die im Winter keine Blätter tragen. «Mit kürzeren Lebenszyklen der Wälder könnte das Windwurfrisiko vermindert werden, dann sind viele Bäume kleiner und standfester», davon ist Wohlgemuth überzeugt.

Artenreiche, klimarobuste Wälder

Dort wo der Wald vor 20 Jahren am Boden lag, stehen heute wieder 10 bis 15 Meter hohe Jungwälder. Die Untersuchungen der WSL zeigen, dass nach dem Sturm generell Pioniergehölze wie Weiden, Birken und Vogelbeeren sowie jene Baumarten überwiegen, die vor einem Sturm dominierten. Im Mittelland und in den Voralpen wächst vor allem die Buche nach, in höheren Lagen die Fichte. Doch die Wälder sind artenreicher als früher. «Vieles deutet darauf hin, dass hier klimarobuste Wälder nachwachsen, mit zusätzlichen Arten wie Eiche, Kirschbaum und Spitzahorn», sagt der Forstwissenschafter Peter Brang (WSL). Denn diese Baumarten vertragen Trockenheit besser als Buche und Fichte. Es ist verblüffend: Katastrophal anmutenden Störungen können in einer solchen Situation also langfristig stabilisierend wirken.

Bei spärlicher Verjüngung stellt sich die Frage, ob gezielt gewünschte Baumarten gepflanzt werden sollen. Die «Lothar»-Forschung der WSL zeigte, dass auf grossen Sturmflächen mit punktuellen Pflanzungen («Trupp-Pflanzungen») von klimaangepassten Laubbaumarten, z.B. Eichen, artenreiche Laubwälder entstehen. Denn zwischen den gepflanzten Baumgruppen etablieren sich von selbst zahlreiche weitere Baumarten. Die Trupp-Pflanzungen sind kostengünstig und führen rascher zum Ziel als ein ausschliesslich natürlich entstandener Jungwald.

Lawinenverbauungen und Pflanzungen in Schutzwäldern?

Die Schutzwirkung eines Gebirgswaldes kann nach grossflächigen Störungen wie «Lothar» schlagartig in Frage gestellt werden. Aufgrund von Erfahrungen und Forschungsergebnissen nach «Vivian» wusste Peter Bebi (SLF), dass umgestürzte Bäume und Wurzelteller zumindest während der ersten Jahre nach einem Sturm einen wichtigen Beitrag zum Schutz vor Steinschlag oder Erosion leisten können. «Die langfristige Wirkung war damals aber noch weitgehend unbekannt», sagt er.

«Neuere Forschungsarbeiten auf Windwurfflächen bestätigen, dass in Gebirgswäldern die erhöhte Rauigkeit der Berghänge aufgrund liegender Baumleichen und Wurzelteller vielfach auch langfristig gegen Lawinen und Steinschlag wirkt», sagt Bebi. Insbesondere dann, wenn die Hänge nicht extrem steil sind und die Wiederbewaldung dank bereits vor dem Sturm existierenden Jungbäumen rasch erfolgt. Für den Fall, dass diese noch nicht vorhanden sind oder sich nur langsam einstellen, haben sich technische Sicherungsmassnahmen und die Pflanzung von Zielbaumarten bewährt, besonders in steilen und hochgelegenen Schutzwäldern.

Lehren aus Stürmen und anderen Störungen

Es ist unbestritten, «Lothar» war für die Waldwirtschaft ein extremes Ereignis, das volkswirtschaftliche Schäden von etwa einer Milliarde Franken nach sich zog, Borkenkäferschäden eingerechnet. Doch die Kette der Naturereignisse, von den Stürmen «Vivian» und «Lothar» über den Waldbrand von Leuk (2003) und die Trockenperioden 2003 und 2018 macht bewusst: Solche Extremereignisse werden zunehmend zur Normalität.

«Die nach den Stürmen gesammelten Erkenntnisse aus Forstpraxis und Forschung helfen, die natürliche Walddynamik besser zu verstehen und Störungen als Chance zur raschen Anpassung zu erkennen», betont Wohlgemuth. Wenn das Klima wie erwartet deutlich wärmer und trockener wird, ist damit zu rechnen, dass wiederholt Bäume auf grösseren Flächen absterben, sei es wegen Sturm, Trockenheit, Insektenbefall oder auch Waldbrand. Die Wälder dürften danach ihre Artenzusammensetzung langsam verändern. Ob sie mit dem rasanten Tempo des Klimawandels Schritt halten können, ist allerdings fraglich.

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Die WSL-Forschungsfläche Habsburg (Kt. Aargau) im Frühjahr 2001. Gut erkennbar sind die vom Sturm umgedrückten Wurzelteller und Baumstämme. Foto: Ulrich Wasem
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Die WSL-Forschungsfläche Habsburg (Kt. Aargau) im Frühjahr 2001. Liegende Baumstämme lagen teilweise mehr als zwei Meter hoch übereinander. Foto: Reinhard Lässig/WSL
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Liegendes, morsches Totholz im Winter 2018/19 auf der WSL-Forschungsfläche Habsburg (Kt. Aargau). Foto: Ulrich Wasem/WSL
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Die WSL-Forschungsfläche Habsburg (Kt. Aargau) im Oktober 2019. Zwischen vermodernden Baumstämmen wachsen unterdessen bis zu 15 Metern hohe Laubbäume. Foto: Reinhard Lässig/WSL
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Die WSL-Forschungsfläche Messen (Kt. Solothurn) im September 2000. Foto: Ulrich Wasem/WSL
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Die WSL-Forschungsfläche Messen (Kt. Solothurn) im September 2016. Foto: Reinhard Lässig/WSL

Liegende Baumleichen spielen in den Wäldern höherer Lagen als Verjüngungssubstrat eine gewisse Rolle, denn auf ihnen samen sich gerne junge Fichten an. In tieferen Lagen spielt totes Holz für die Baumverjüngung hingegen keine Rolle. Totholz rückte in den vergangenen 20 Jahren allerdings als bedeutender Lebensraum für bis zu 3000 Arten von Tieren, Pilzen und Bakterien in den Vordergrund. Deshalb hat dieses Substrat im Waldbau wie im Naturschutz unterdessen einen nicht mehr wegzudenkenden Stellenwert. Vom Sturm zum Totholz zum Leben: heute ist diese Kurzformel zum Allgemeinwissen geworden, vor «Lothar» war sie aber nur wenigen bewusst.

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