Im Sommer 2016 zerstörte ein mit riesigen Felsbrocken durchsetzter Murgang die Waage im Illgraben bei Leuk (Kanton Wallis). Jetzt hat die von der Eidg. Forschungsanstalt WSL betriebene Messanlage eine technisch verbesserte Nachfolgekonstruktion. Sie hielt am 10. Juni 2019 dem ersten Murgang des Jahres nicht nur stand, sondern lieferte auch genauere und zeitlich höher aufgelöste Messwerte und Videos als die frühere Anlage.
Die neue Murgangwaage besteht wie ihre Vorgängerin aus einer Platte auf einem Stahlrahmen und sechs Kraftmesszellen. Sie ist so in eine aus Beton erstellte Wildbachsperre eingebaut, dass ein darüber hinwegdonnernder Murgang – eine rasch fliessende Mischung aus Schlamm und Gestein – nur über die Messanlage und nicht an dieser seitlich vorbei talwärts fliessen kann. Anhand der Messungen lässt sich der Abfluss im Detail auswerten und das Gewicht von grösseren Gesteinsbrocken erfassen.
Die von der Eidg. Forschungsanstalt WSL und vom WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF entwickelte neue Messanlage soll die von ihrer Vorgängerin über 13 Jahre hinweg gesammelten einzigartigen Messreihen weiterführen, dank modernster Messtechnik sogar mit noch besserer Datenqualität.
Hightech im Walliser Rhonetal
Die alte Murgangwaage, die bei ihrem Bau 2003 die weltweit erste ihrer Art war, lieferte bis zu ihrer Zerstörung 2016 (siehe Kasten) umfassende Daten über die dynamischen Kräfte von insgesamt 50 Geschiebe führenden Hochwassern und Murgängen im Illgraben. Bei der vor kurzem abgeschlossenen Erneuerung haben die Forschenden die technische Ausstattung optimiert. Kernstück der einbetonierten Waage ist die 8 m2 grosse Stahlplatte, unter der sechs Kraftmesszellen angebracht sind, welche die vertikalen und horizontal wirkenden Kräfte eines Murganges hoch aufgelöst erfassen. Zusätzlich liefern Radar- und Lasergeräte, Beschleunigungssensoren an der Waage sowie Videokameras Daten über die Abflussmenge, den Wassergehalt, die Dichte und die Fliessgeschwindigkeit des Murgangs.
Damit lassen sich Rückschlüsse auf die Korngrössenverteilung und Zusammensetzung des Murganges ziehen. Die Forschenden entwickelten und testeten die neue Anlage vor dem Einbau in der Natur im Labor, wo Belastungstests unter kontrollierten Bedingungen Angaben zum Verhalten der Messanlage lieferten. Dabei flossen Erkenntnisse aus Modell-Messungen ein, die an kleinen, künstlichen Murgängen gemessen wurden.
Erster Murgang 2019 weihte Murgangwaage ein
Am 10. Juni, beim ersten Murgang dieses Jahres, bewährte sich die neue, weltweit grösste Murgangwaage im Illgraben bei Leuk VS. Sämtliche mit der Murgangwaage verbundenen Messgeräte einschliesslich der Videokamera lieferten alle erwarteten Daten - ein erfolgreicher Test für das aus Wissenschaftern und Technikern bestehende Team. Der aktuelle Murgang war von verhältnismässig geringer Stärke und hat aus dem Einzugsgebiet des Illgrabens etwa 5'000 m3 Gesteinsmaterial ins Tal geschwemmt. Teile davon gelangten bis in die Rhone.
Und das hat die neue Anlage gemessen: Sie erfasste den Murgang am 10.06.2019 um 20:40 Uhr etwa 140 m bachaufwärts der Messanlage. Gut 3 Minuten später erreichte seine Front mit einer Geschwindigkeit von knapp 5 km/h die neue Messplatte. Das Gemisch aus Schlamm und Gestein ähnelte in seiner Dichte flüssigem Beton, seine maximale Höhe betrug lediglich 70 cm. Der Murgang transportierte sehr viel Holz, typisch für das erste Ereignis nach dem Winter. Obwohl er sehr langsam floss, waren in den Videoaufnahmen rund 20 Schübe oder Schwallwellen zu erkennen, ein bekanntes Phänomen für ein derartiges Gemisch. Das Ereignis dauerte rund 30 Minuten. Im Anschluss daran floss im Gerinne wieder ein schmaler, aus Schmelzwasser gespeister Bach, so wie es in den Abendstunden anfangs Juni üblich ist.
Naturgefahrenforschung für die Praxis
Mit der neuen Messeinrichtung wollen die Forschenden der WSL eine der Hauptfragen in der Murgangforschung beantworten: Wie gross ist die Reibung während eines Murgangs und wie verändert sich diese während des gesamten Ereignisses? Es gilt vor allem, die Fliessdynamik von Murgängen noch besser als bisher zu verstehen, insbesondere die Wechselwirkung von Wasser und mitgerissenen Felsbrocken und Sedimenten. Wer die Antwort kennt, kann die Abflussgeschwindigkeit eines Murgangs realistischer als bisher ermitteln und die zu erwartende Abflussmenge auch in Gerinnen berechnen, in denen es keine Messinstrumente gibt.
Die im Illgraben gewonnenen Erkenntnisse sollen Naturgefahrenfachleuten in Gebirgsregionen dabei helfen, Schutzbauwerke optimal zu dimensionieren, genauere Gefahrenkarten als bisher zu erstellen und Schutzmassnahmen effizienter zu gestalten. Ein Ziel der Forschung ist, Bauten wie z.B. Sedimentsperren, in denen grobes Gesteinsmaterial zurückgehalten wird, derart zu optimieren, damit Murgänge talwärts an Intensität verlieren und weniger gefährlich für Menschen und Infrastrukturen sind.
Aus Sicherheitsgründen raten die Fachleute der WSL weiterhin dazu, Warnsysteme wie im Unterlauf des Illgrabens bei Leuk VS zu installieren. Dort erkennen Messgeräte im Oberlauf des Illgrabenbaches einen neu entstandenen Murgang, was im Unterlauf umgehend Sirenen und Warnblinklampen auslöst, um vor der kommenden Gefahr zu warnen.
Der Illgraben gilt als eines der aktivsten Murganggerinne der Alpen. Zwischen Mai und Oktober ereignen sich dort durchschnittlich etwa drei bis fünf Murgänge unterschiedlicher Grösse pro Jahr. Der bisher grösste bekannte Murgang der Neuzeit fand 1961 statt und hatte ein Volumen von einigen 100‘000 m3. Das Einzugsgebiet reicht vom Gipfel des Illhorns (2717 m ü.M.) bis zur Mündung in die Rhone (605 m ü.M.). Darum hat die WSL hier seit dem Jahr 2000 in enger Zusammenarbeit mit dem Kanton Wallis und dem Bundesamt für Umwelt BAFU eine Beobachtungsanlage für natürliche Murgänge aufgebaut. Das mittlere Volumen der bis heute gemessenen Murgänge beträgt 25‘000 m3, das grösste gemessene Ereignis erreichte 100‘000 m3. Heute gibt es ähnliche Messanlagen in Nordamerika und Japan, die ebenfalls Forschungszwecken dienen. Deren Messplatten sind jedoch entweder kleiner als diejenige im Wallis oder messen nicht auf der ganzen Breite des jeweiligen Baches. Die neue Anlage im Wallis ist die weltweit einzige, welche Daten in dieser Qualität und Fülle liefern kann.
Die erste Murgangwaage wurde am 22. Juli 2016 während eines Murganges zerstört. Dieses Ereignis war hinsichtlich Gesamtvolumen und Fliessgeschwindigkeit nicht aussergewöhnlich. Das Besondere an diesem Murgang waren drei sehr grosse Steinblöcke von jeweils mehr als 30 m3, die an dessen Front transportiert wurden, die Waage aus ihrer Verankerung rissen und talwärts transportierten. Die drei Tonnen schwere Platte der Waage wurde später bei Niederwasser einige hundert Meter entfernt im Bett der Rhone geortet.
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