Fragen und Antworten der Forschungsanstalt WSL zu den Unwettern

Was ist bei den Unwettern passiert, wie kann man sich schützen? Naturgefahren-Fachleute der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL geben Antworten.  
 

Waren das Ausmass der Zerstörungen resp. die Wassermengen der letzten Tage aus Expertensicht überraschend?  

Ja und Nein. Die zerstörerischen Murgänge und raschen lokalen Überflutungen, welche zu den Todesfällen geführt haben, sind von ähnlichen Ereignissen der letzten 30 Jahre grundsätzlich relativ gut bekannt. Jedoch war die Intensität der Prozesse teilweise überraschend. Ganz besonders beeindruckend war der rasche Anstieg der Rhone zwischen Siders und Martigny auf einen Pegel, den der Fluss zuvor noch nie erreicht hatte.   

Mit dem Klimawandel sollen Starkregen zunehmen. Wie kommt es dazu? 

Wärmere Luftmassen können mehr Feuchtigkeit speichern, die dann abregnen kann. Die Erwärmung der Erdatmosphäre aufgrund des Klimawandels erhöht deshalb das Potenzial für Starkniederschläge.  

Und was bedeutet das?  

Starkniederschläge können, je nach Geländeform, kleine Fliessgewässer in kurzer Zeit stark anschwellen lassen. Im Gebirge heisst das: In steilen Gebirgsbächen mit geringer Aktivität, wo sich über lange Zeit Material angesammelt hat, kann ein Hochwasser dieses in Bewegung setzen und einen zerstörerischen Murgang oder intensiven Geschiebetransport auslösen. Zudem können weiträumige Schuttablagerungen das Umfeld des Bachbetts verwüsten. Je nachdem, wie viel mobilisierbares Material es zum Zeitpunkt eines Ereignisses in einem Gerinne hat, kann deshalb das gleiche Niederschlagsereignis sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. 

Wo kommt dieses Material her? 

Das Material hat verschiedene Quellen: Rutschungen und Sturzereignisse die direkt in einen Bach führen, zugeführtes Material aus kleineren Seitenbächen, Tiefen- und Seitenerosion.  

Was ist ein Murgang?  

Es ist ein Gemisch aus Wasser und Schlamm, Sand, Kies, Steinen, Blöcken (und manchmal auch Holz), das einen hohen Anteil an festen Stoffen (30-60 %) enthält und mit hoher Geschwindigkeit fliessen kann. Die Fliesseigenschaften von Murgängen ähneln sowohl denen von Hochwasser als auch denen von Erdrutschen. Murgänge entstehen in der Regel in steilen Flussbetten oder Schluchten ab einer Neigung von 25 bis 30%. Fliesst ein Wasser-Feststoff-Gemisch über steile Hänge, spricht man eher von (Hang-)Schlammlawinen. 

Wie kann die Schweiz Bevölkerung und Infrastruktur vor diesen Gefahren schützen?  

Mit gut unterhaltenen planerischen, baulichen (technischen), organisatorischen und biologischen Massnahmen, die auf Forschung und Entwicklung basieren. Zur Zeit wird auf nationaler Ebene eine Warnung für Rutschungen und Hanginstabilitäten entwickelt, die das Bundesamt für Umwelt BAFU ab nächstem Jahr in Betrieb nimmt. Diese Warnung wird aufgrund der aktuellen Bodensättigung und mit den Niederschlagsvorhersagen Regionen aufzeigen, wo in den kommenden Tagen eine erhöhte Gefahr von spontanen Rutschungen besteht. Ausserdem werden neue Fernerkundungsmethoden entwickelt, um Anzeichen von längerfristigen Felsbewegungen, wie beispielsweis die Rutschung von Brienz/Brinzauls, frühzeitig zu entdecken. Wenn solche Gefahrenherde bekannt sind, können dort vor Ort lokale Alarmsysteme installiert werden. 

Je nach Gefahren- und Risikopotential können können Schutzmassnahmenn dimensioniert und erstellt werden, welche die Auswirkungen solcher Ereignisse dämpfen können. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es jedoch nicht.  

Sind Starkniederschläge nur im Gebirge ein Problem? 

Nein, auch im Flachland können sie grosse Schäden anrichten. Entweder, weil das Wasser aus dem Gebirge Flüsse und Seen anschwellen lässt, aber auch direkt: Fällt innert kurzer Zeit viel Regen auf bereits gesättigte, sehr trockene oder asphaltierte (versiegelte) Böden, sorgt der Oberflächenabfluss vielfach für überschwemmte Keller und Strassen. 

Ist der Süden der Schweiz anfälliger für Naturkatastrophen als der Teil nördlich der Alpen? Kann dort der Boden weniger Wasser aufnehmen?

Nein, der Süden ist nicht generell anfälliger. Es sind einfach insgesamt andere Verhältnisse. Auf der Alpensüdseite sind Bäche etc. an die grösseren Niederschläge, die Geschiebe “wegräumen“, gewohnt. 

Müssen wir bestehende Gefahrenkarten neu berechnen? Im Misox z.B. ging der Murgang dort durch, wo keine Gefahr vorausgesehen war. 

Seit fünf bis zehn Jahren gibt es grundsätzlich für alle Gemeinden Gefahrenkarten, welche die Wahrscheinlichkeit und potenzielle Intensität für Überflutungen und Massenbewegungen aufzeigen. Diese müssen in jedem Fall nach einer bestimmten Zeit oder nach besonders grossen Unwettern auf ihre Gültigkeit überprüft und allenfalls aktualisiert werden. Gefahrenkarten werden nach bestem Wissen und mit den besten verfügbaren Grundlagen erstellt, aber sie sind niemals perfekt.  

Verschiebt der Klimawandel auch die Dimension der Ereignisse, mit denen man rechnen muss? Ist ein 100-Jahr-Ereignis heute vielleicht viel dramatischer als eines noch vor 20 Jahren? 

Mit dem Klimawandel werden nach dem heutigen Kenntnisstand grosse Niederschlagsereignisse häufiger. Starkregen und Hochwasserereignisse, die heute alle 100 Jahre vorkommen, werden in Zukunft häufiger auftreten. Doch die Verkettung von Abfluss, Geschiebetransport, allfälligen Murgängen, Schutzmassnahmen und letztlich der Schadenswirkung sind so komplex, dass wir nicht davon ausgehen können, dass dies automatisch zu grösseren Schäden führt. Wir verstehen diese Zusammenhänge auch noch zu wenig, um das zu beurteilen.  

Wo muss nun investiert werden? Welche Prioritäten schlagen Sie vor? 

Im Moment und in den kommenden Tagen hat die Bewältigung der Hochwassergefahr, resp. die Sicherung der gefährdeten Personen und Infrastruktur oberste Priorität. Noch können wir nicht sicher sein, dass sich das Unwettergeschehen definitiv beruhigt.  

Gleichzeitig müssen wir die Ereignisse und beobachteten Schadensprozesse sorgfältig dokumentieren. Die WSL beispielsweise erfasst seit 1972 die Schadenskosten in einer Datenbank. Damit gewinnen wir wichtige Erkenntnisse für den Schutz vor zukünftigen (ähnlichen) Situationen. 

Anschliessend müssen die Verantwortlichen abwägen, wo und in welcher Art die Infrastrukturen wiederhergestellt werden, resp. wo Verbesserungen der Infrastruktur oder des Schutzes durch raumplanerische oder bauliche Massnahmen sinnvoll sind – ganz im Sinne des integralen Risikomanagements, das die Leitlinien für den Schweizer Naturgefahrenschutz bildet. 

Bestehende Schutzmassnahmen müssen auf ihre Dimensionen hin evaluiert und gepflegt werden. 

Themen und Ansprechpersonen

  • Extremereignisse und Hochwasserschutz: Christoph Hegg, Acting Director WSL 
  • Naturgefahren generell
    • Manfred Stähli, Leiter der WSL-Forschungseinheit Gebirgshydrologie und Massenbewegungen
    • Alexandre Badoux, Leiter WSL-Gruppe Wildbäche und Massenbewegungen 
  • Murgänge und ihre Prozesse:
    • Brian McArdell, WSL-Gruppe Wildbäche und Massenbewegungen 
    • Christoph Graf, WSL-Gruppe Wildbäche und Massenbewegungen 
  • Unwetterschäden im Lauf der Zeit: Käthi Liechti, WSL-Gruppe Hydrologische Vorhersagen, verantwortlich für die Unwetterschadensdatenbank 
  • Auswirkungen des Klimawandels auf hydrologische Extremereignisse: Manuela Brunner, Leiterin SLF-Gruppe Hydrologie und Klimafolgen in Gebirgsregionen 
  • Zu Handlungsempfehlungen geben BAFU und Kantone Auskunft, zu konkreten Fällen vor Ort die Kantone und Gemeinden. 
  • Medienstelle WSL: Beate Kittl; Medienstelle SLF: Martin Heggli 

Copyright

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