04.07.2022 | Santina Russo | News WSL
Seit der letzten Eiszeit haben die Gämsen immer höhere Lagen besiedelt. Das zeigt eine Studie der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, in der Forschende genetische Informationen der Tiere mit Computermodellen kombinierten. Die daraus entstandenen Simulationen könnten künftig auch zeigen, wie die Tiere auf die fortschreitende Klimaerwärmung reagieren.
Gämsen gibt es in der Schweiz heute im Jura, in manchen Gegenden des Mittellandes und vor allem im Alpenraum. Doch das war nicht immer so: Vor 20 000 Jahren, während der letzten Eiszeit, waren die Alpen komplett mit Gletschern bedeckt. Damals lebten die Gämsen in Gebieten mit steilem Gefälle nördlich und südlich dieser Eismasse.
Wie sich der Lebensraum der Tiere von damals bis heute verschoben hat und welche Faktoren dabei eine Rolle spielten, hat nun der Umweltwissenschafter Flurin Leugger in seiner Masterarbeit an der WSL untersucht. Mithilfe von genetischen Analysen und Computersimulationen zeichnete er nach, was den Gämsen auf ihren Verbreitungswegen Grenzen gesetzt hat. Mit dieser Methode kann die Forschung künftig auch in die Zukunft blicken – und etwa vorhersagen, wie die Tiere auf die heutige Klimaerwärmung reagieren könnten.
Blick in die Gämsengene ¶
Zunächst untersuchte Leugger zusammen mit Forschenden der Universitäten Grenoble Alpes und Savoie Mont Blanc (Frankreich), wie nah die verschiedenen Gamspopulationen im Alpenraum genetisch miteinander verwandt sind. Dazu nutzen die Forschenden etwa Blutproben oder Fellbüschel, die verschiedene Jagdverwaltungen, Naturparks und NGOs gesammelt hatten. Insgesamt analysierten die Forschenden die Erbinformation von 449 Gämsen aus Frankreich, Österreich, Italien, Slowenien, Kroatien und der Schweiz.
Dabei zeigte sich, dass die alpine Gämsenpopulation aus zwei genetischen Hauptgruppen besteht. Die eine Gruppe lebt in den westlichen Alpen bis zum Rhonetal im Wallis, die andere östlich des Rohnetals.
Von der Eiszeit bis heute ¶
In einem zweiten Schritt rekonstruierte Leugger aus der aktuellen Verbreitung der Gämsen und aus Klima- und Topografiedaten die Merkmale des idealen Gämsen-Lebensraums. «Vor allem die Hangneigung, die Temperatur und die Niederschlagsmenge beeinflussen, ob sich Gämsen wohlfühlen», sagt Leugger. Mit diesen Merkmalen trainierte der Forscher verschiedene Machine-Learning-Modelle. Diese wendete er danach auf die Klimabedingungen vor 20 000 Jahren an. So ergab sich eine detaillierte Karte der möglichen Verbreitung der Gämsen am Ende der letzten Eiszeit.
In einem letzten Schritt simulierte Leugger anhand der sich verändernden Klimabedingungen die Verbreitung der Gamspopulationen während der folgenden 20 000 Jahre bis heute. So zeigten die Simulationen, wie die Gämsen mit zunehmender Erwärmung und dem Rückgang der Gletscher immer mehr den Alpenraum besiedelten. Dabei variierte der Forscher gewisse Parameter der Simulationen, etwa die durchschnittliche Migrationsgeschwindigkeit der Gämsen, oder er baute künstliche geografische Hindernisse ein. Das Ergebnis jeder Simulation verglich er jeweils mit der heutigen genetischen Verteilung der Tiere. So verstand Leugger immer besser, aufgrund welcher Einflüsse sich Gämsenpopulationen verbreiten.
Die Zukunft der Gämsen ¶
Eines der Ergebnisse: Gämsen migrieren nur über kurze Distanzen, meist verbringen sie ihr Leben in unmittelbarer Nähe ihres Geburtsortes. Zudem gibt es geografische Hürden, die die Tiere nicht überschreiten – vor allem grosse Flüsse und breite, flache Täler. «Die Gämsen meiden offenbar flaches Talgelände, in dem sie ihren Fressfeinden wie Wolf und Luchs ausgesetzt waren», erklärt Leugger. Wohl darum verbreiten sie sich höchst selten über diese geografischen Grenzen hinaus.
Diese Erkenntnisse lassen sich nun nutzen, um die zukünftige Entwicklung zu untersuchen. Denn ähnlich wie auf das Klima der Eiszeit lassen sich Leuggers Modelle auch auf Voraussagen von Klimadaten anwenden – und könnte so in weitergehenden Arbeiten zeigen, wie die Gämsen auf die zunehmende Klimaerwärmung reagieren. «So könnte man künftig besonders isolierte und darum anfällige Populationen identifizieren, die man zurückhaltend bejagen sollte», sagt der Umweltforscher. Seine Kooperationspartner arbeiten ausserdem daran, das Modell zu verfeinern, um auch kleinräumigere Einflüsse zu untersuchen. Damit lässt sich dann sogar vorhersagen, ob und wie neue Bauten – Strassen etwa – die Gämsen beeinträchtigen.
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