20.10.2021 | Gottardo Pestalozzi | News WSL
Über ein Jahrtausend haben Menschen in der Südschweiz die Edelkastanie als Obstbaum in sogenannten Selven gepflegt und genutzt. Seit den 1990er-Jahren engagieren sich Behörden und Institutionen im Tessin und Graubünden dafür, diese landschaftsprägende Bewirtschaftung wiederherzustellen. Darüber ist unter Mitwirkung der Eidg. Forschungsanstalt für Wald Schnee und Landschaft WSL eine 250-seitige Dokumentation entstanden.
Seit einigen Wochen läuft die jährliche Kastanienernte im Tessin. Bis in den November hinein sammeln Menschen die Früchte für den Eigengebrauch oder bringen sie zum Verkauf in eine Sammelstelle. Dass dies heute noch geschehen kann ist nicht selbstverständlich.
Die Kastanie war lange der «Brotbaum» der Südschweiz. Familien und Kleinbauern pflegten die Bäume in lichten Hainen (Selven) intensiv, um die Fruchtproduktion zu optimieren. Um 1750 hatten diese Kulturen im Tessin mit über 10'000 Hektaren ihre grösste Ausdehnung erreicht. Die traditionelle und landschaftsprägende Nutzung nahm danach stetig ab. So weit, dass die Selven nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig vernachlässigt wurden.
Die Wiedergeburt der Kastanienselve ¶
Der Anblick der verfallenden Selven weckte in den 1980er-Jahren bei Bevölkerung und Behörden das Bewusstsein, dass ein wertvolles Erbe zu verschwinden drohte. Die Verlustgefahr betraf nicht nur bisher prägende Landschaftselemente, sondern auch Biodiversität, botanische und kulturelle Kenntnisse sowie das Erbgut der über 50 noch vorhandenen Kastaniensorten.
So starteten kantonale Forstdienste, Landwirtschaft, Waldbesitzer sowie Kanton- und Gemeindebehörden zahlreiche Projekte, um die Selven wiederherzustellen und zu bewirtschaften. Die Eidg. Forschungsanstalt WSL lieferte die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Arbeiten, insbesondere durch ihre Zweigstelle in Cadenazzo (TI). Heute gibt es in der Südschweiz 450 Hektaren bewirtschaftete Kastanienselven, davon rund 100 in Graubünden. Sie sind Habitate von wesentlicher Bedeutung für die Biodiversität. Hier finden sich insbesondere Arten, die offene und lichte Wälder benötigen und zum Teil vom Aussterben bedroht sind.
Eine einmalige Dokumentation ¶
Die Naturwissenschaftliche Gesellschaft des Kantons Tessin STSN (Società Ticinese di Scienze Naturali) hat zusammen mit dem Museo cantonale di storia naturale (MCSN) und der WSL ein Buch herausgegeben, das die Geschichte der Selven sowie die unterschiedlichen Aspekte ihrer Wiederherstellung auf 249 Seiten dokumentiert.
Vorgestellt wurde das Werk am 19. Oktober an einem Vortragsabend in Roveredo (GR). Das Buch in italienischer Sprache kann bei der STSN bezogen werden.
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