SLF-Biologe Christian Rixen schreibt über seine Expedition nach Grönland auf den Spuren historischer Botaniker – und des Klimawandels.
Auf Clavering Ø sollen wir nun also unsere nächsten zwei Wochen verbringen. Es gibt eine kleine historische Hütte, in der wir freundlicherweise wohnen dürfen (vielen Dank an NANOK, einen Verein, der alte Hütten saniert). Es gibt ein Tischchen und drei Pritschen – was brauchen wir mehr? Die Hütte ist aus dem Jahr 1931, und um uns herum finden wir Reste mehrerer Häuser aus der gleichen Zeit. Uns wird langsam bewusst, dass wir uns hier an einem (nicht nur botanisch) geschichtsträchtigen Ort befinden. 1931 errichtete hier Lauge Koch unter Mitarbeit von Gelting (!) eine grosse Forschungsstation mit mehreren Häusern. 1945 zerstörten leider deutsche Soldaten die Station - bis auf die kleine Hütte, in der wir jetzt wohnen.
Die Hütte ist unser Basecamp, aber schon bald ziehen wir weiter – wir wollen höher hinaus. Wir wollen der Route und den Aufnahmeflächen von Schwarzenbach von Meereshöhe bis auf ca. 1300 m ü.M. genau folgen. Das bedeutet viel Arbeit auch in grösserer Höhe und zu weit weg von unserer guten Hütte (Zwei Wochen sind wirklich eine sehr knapp bemessene Zeitspanne). Also benötigen wir ein weiteres Camp auf circa 600 m Höhe, wie auch Schwarzenbach es hatte. Das heisst, wir packen Campingausrüstung, Essen für einige Tage, Waffen etc. und schlagen unser Lager am Berg auf.
Das Wetter ist gut und die Arbeit läuft. Nur wie schützt man sich in der Nacht vor möglichen Besuchen von Eisbären? Zum einen bauen wir einen Eisbärenzaun um das Zelt herum auf. Der hält keinen Eisbären ab, aber es gibt einen Warnknall, wenn ein grosses Tier (oder ein Mensch) in die Schnur des Zaunes läuft. Dann muss man allerdings auch in zwei Sekunden aus dem Schlafsack und Zelt sein, um zu reagieren. Uns ist das an Sicherheit nicht genug, und wir beschliessen, Nachtwache zu halten. Das bedeutet Drei-Stunden-Schichten für jeden, also beispielsweise von Mitternacht bis drei Uhr morgens, von drei Uhr bis sechs Uhr oder von sechs Uhr bis neun Uhr. So bekommt jeder knapp sechs Stunden Schlaf. Wenig, aber das muss reichen. Die Sonne scheint sowieso 24 Stunden am Tag, und der Ausblick vom Camp entschädigt für den Schlafmangel. Die mittlere Schicht ist nicht die beliebteste, wurde aber manchmal durch wenig scheue Schneehasen belohnt, die selbst im Sommer fast ganz weiss sind. Auch Moschusochsen näherten sich dem Camp, drehten aber rechtzeitig ab. Anzahl Eisbären: zum Glück null.
Über die Arbeit ¶
Schwarzenbach hat an 19 Orten alle Pflanzenarten notiert, die er gefunden hat. Zusätzlich hat er entlang von Routen alle Arten aufgeschrieben und vor allem hat er von allen Arten beim Abwärtslaufen die obersten Vorkommen notiert. Dieses Vorgehen haben wir so gut wie möglich kopiert. Aufgrund guter Fotodokumentation von Schwarzenbach konnten wir die meisten Orte wiederfinden. Bei gutem Wetter erreichten wir bereits in den ersten Tagen auch den höchsten Punkt, den Gipfel des Østtinden auf circa 1275 m. Von dort notierten wir auf dem Weg bergab die höchsten Vorkommen aller Pflanzenarten. Für alle 100m-Höhenstufen notierten wir alle Arten erneut, so dass wir jetzt ihre heutige Höhenverbreitung kennen und mit der früheren vergleichen können. Die Arbeit war schön aber auch sehr lang und hart. Wegen der fehlenden Nacht und weil wir schönes Wetter ausnutzen wollen, waren wir mehrfach erst nach Mitternacht wieder bei Zelt oder Hütte.
Zurück in der Schweiz ¶
Derzeit werten wir unsere Daten aus. Es ist noch zu früh zu sagen, ob die Pflanzenarten in den vergangenen 20 Jahren ihre Verbreitung nach weiter oben verschoben haben. Aber wir wissen bereits etwas über den Vergleich zwischen Geltings und Schwarzenbachs Studien. Schwarzenbach schrieb über seine vorläufige Auswertung, dass über alle Arten hinweg deren maximale Höhengrenze um fünf bis sechs Meter pro Dekade angestiegen ist. Während Gelting acht Arten auf 1225 m und höher fand, waren es bei Schwarzenbach 28. Wir sind gespannt, ob wir diese Trends bestätigen können, oder ob sie sich sogar verstärkt haben. Vergleichbar den Gletschern sind Pflanzen hervorragende Indikatoren über veränderte Umweltbedingungen wie Temperaturen und Niederschläge, und je weiter die Informationen zurückreichen, desto besser verstehen wir, wie sich längerfristig die Umwelt in Grönland verändert hat. Ausserdem ist über die Pflanzendecke in so einer abgelegenen Region viel zu wenig bekannt. Wir fanden auch einige seltenere Pflanzenarten, und um Biodiversität zu schützen, müssen auch die seltenen Arten und ihre Vorkommen bekannt sein (Nord-Ost-Grönland ist immerhin der grösste aber auch der am wenigsten besuchte Nationalpark der Welt!). Da sich Grönland zurzeit aufgrund des Klimawandels stark verändert und die Eisbedeckung zurückgeht, ist relevant, ob und wie schnell Pflanzen neue Lebensräume besiedeln können. Dies wirkt sich nicht zuletzt auf die Bodenbildung und Bindung von Kohlenstoff durch Pflanzenwurzeln aus. Mit unserer Studie wollen wir historische Informationen nutzen, um einen Beitrag zu leisten, die Veränderungen dieser aus unserer Sicht extremen Region der Welt zu verstehen.
Wir bedanken uns für die Unterstützung unseres Projektes durch INTERACT, die Forschungsstation Zackenberg, die Schweizerische Stiftung für Alpine Forschung SSAF sowie die Familie Schwarzenbach!
Lesen Sie hier Teil 1 des Blogs. Darin schreibt Christian Rixen über die Hintergründe des Projekts und über die Anreise nach Clavering Ø.