Wie die Schweiz auf die Coronakrise reagiert hat

Zu Beginn der Coronakrise regierte der Bundesrat per Notrecht. Dennoch liess die Landesregierung den Kantonen viel Spielraum und erwies sich als flexibel und experimentierfreudig. Dies zeigt eine Analyse der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Was lässt sich daraus für andere gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel oder den Biodiversitätsverlust lernen?

Zu Beginn der Coronakrise wurde die Schweiz vier Monate lang per Notrecht regiert - zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg für eine so lange Zeit. Vom 16. März bis zum 19. Juni 2020 dauerte die ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz, während der die Landesregierung alles beschliessen durfte, was sie zur Eindämmung der Pandemie für notwendig erachtete, ohne das Parlament oder die Bevölkerung zu fragen. Rund zwei Dutzend Notverordnungen hat sie in dieser Zeit erlassen.

Wie ist der Bundesrat mit dieser unvergleichlichen Machtfülle umgegangen? Wurden die Stimmen aller möglichen Betroffenen der Massnahmen gehört, obwohl es keine offiziellen Vernehmlassungen gab? Und könnten Lehren für andere Systemwechsel gezogen werden, die nötig sein werden, um Herausforderungen wie dem Klimawandel oder Mobilitätsengpässen zu begegnen? Forschende der WSL haben in einer Analyse im Journal «Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie» untersucht, wie die Entscheidungsprozesse in Regierung und Verwaltung während der ausserordentlichen Lage abgelaufen sind. 

Ausnahmeregelungen für Kantone mit besonderen Bedürfnissen

Dabei fiel ihnen vor allem eines auf: «Es hat sich gezeigt, wie robust die föderalistischen Strukturen der Schweiz sind», erklärt Yasmine Willi, Hauptautorin und Postdoc in der WSL-Forschungsgruppe Regionalökonomie und -entwicklung. Zum Beispiel hatte der von Covid-19 besonders stark betroffene Kanton Tessin beschlossen, die Baustellen zu schliessen und war damit deutlich weitergegangen, als es die Bundesverordnung vorsah. Obwohl das Tessin damit gegen geltendes Recht verstoss, liess der Bundesrat den Kanton gewähren – und legitimierte dessen Vorgehen im Nachhinein durch eine Anpassung der Verordnung.

«Die gewohnten föderalistischen Prozesse wurden weitergeführt», sagt Willi. «Denn trotz geltendem Notrecht lag die Umsetzung der politischen Massnahmen, die vom Bundesrat verfasst wurden, letztendlich bei den Kantonen.» Die Beständigkeit des Föderalismus ist umso bemerkenswerter, als dass demokratische Prozesse zeitweise zurückgestellt wurden, indem das gewählte Parlament sich selbst entmachtete und die Session sowie Volksabstimmungen verschob.

Politische Entscheidungen in sich wandelnden Zeiten

Bei Krisen ändert sich die Lage rasch und Entscheidungen müssen gefällt werden, ohne deren Auswirkungen genau zu kennen. Dies zwingt Regierung und Verwaltung, ihre Entscheidungen laufend zu überprüfen und anzupassen, zum Beispiel an Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Die laufend angepasste Politikgestaltung durch Regierung und Verwaltung bei tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen wird als «Transformative Governance» bezeichnet.

Die Bewältigung der Coronakrise weist laut den Autorinnen und Autoren der Analyse die typischen Merkmale hierfür auf: Entscheidungen werden unter Unsicherheit getroffen, unterschiedliche Perspektiven werden miteinbezogen, reflexives Lernen und das Experimentieren mit Lösungen bestimmen die Entscheidungsfindung. «In akuten Krisenzeiten stützt sich die Politik stärker auf wissenschaftliche Erkenntnisse ab als in gewöhnlichen Zeiten», erklärt Willi. Bei Corona setzten die Fallzahlen der Virologen und Epidemiologen die Leitplanken für die Erlasse des Bundesrates.

Charakteristisch ist auch die schrittweise Verschärfung der Massnahmen, die das öffentliche Leben lahmlegten. Die Schliessungen von Grenzen, Geschäften und Schulen bedeuteten drastische Eingriffe in die Grundrechte der Bevölkerung, gleichzeitig konnte die Landesregierung nicht wissen, welche Massnahme wie gut wirken würde. Daher setzte sie für jeden Schritt klare Fristen – auch für die anschliessenden Lockerungen –, die dann je nach Entwicklung der Infektionszahlen verlängert oder verkürzt wurden.

Wandel auch ohne umfassendes Wissen

Besonders interessiert sind Yasmine Willi und ihre Kollegen daran, was nach der Coronakrise geschehen wird: Werden sich bestimmte umweltschädliche Praktiken langfristig ändern, denen das Virus kurzfristig einen Riegel vorschob, wie beispielsweise Flugreisen oder Überkonsum? Werden gesellschaftliche Trends hin zu mehr digitalen Treffen und weniger Konsum erhalten bleiben? «Nur wenn es gelingt, das Konsumverhalten, die Produktion von Gütern und die Ressourcennutzung langfristig zu verändern, kann die gegenwärtige Krise eine Chance für einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel sein», erklärt Willi. Beispielsweise könnten Zuschüsse, die Unternehmen aufgrund der Pandemie bekommen, an Kriterien zum Klimaschutz geknüpft werden, oder die finanzielle Entlastung betroffener Haushalte könnte soziale Ungleichheiten abmildern.

Die Coronakrise hat gezeigt, dass gesellschaftliche Anpassungen trotz grosser Unsicherheiten schnell geschehen können. Einschneidende Entscheidungen wurden rasch getroffen und konsequent umgesetzt, obwohl deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft unklar waren. «Im Unterschied zur Corona-Pandemie wissen wir viel mehr über Umweltkrisen wie Klimawandel oder Biodiversitätsverlust, handeln aber trotzdem weniger entschlossen», kritisiert Willi.

Entschlossenes Handeln – das macht die Coronakrise deutlich – ist jedoch wichtiger als «perfektes» Handeln. So auch beim Klimawandel. Auch hier wäre ein flexibles und experimentelles Vorgehen denkbar. Langfristige Klimaziele wie z.B. Netto-Null Emissionen bis 2050 liessen sich durch jährliche Reduktionsziele ergänzen, die dazu nötigen Massnahmen würden jedes Jahr überprüft und, falls nötig, angepasst. Auf diese Weise könnte die Klimakrise trotz bestehender Unsicherheiten besser bewältigt werden.

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