Seit erstem Februar leitet Ruzica Dadic die Forschungseinheit Schnee und Atmosphäre am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF. Beim Spaziergang um den Davoser See erzählt sie, warum Forschung sich stärker einbringen sollte und warum sie stärker fachübergreifend arbeiten will.
Ruzica, wir haben immer weniger Schnee. Warum erforschen wir ihn noch?
Sehr guter Punkt. Und ich habe mir das in letzter Zeit oft überlegt. Ja, wir haben weniger Schnee, aber der Schnee ändert sich auch, und er wirkt sich auf das Klima aus. Wie gross die Rückwirkungen genau sind, wissen wir immer noch nicht ganz genau. Wir wissen zum Beispiel, dass Schnee viel Sonnenstrahlung reflektiert, und wenn es weniger Schnee gibt, bekommt die Erde mehr Wärme ab und der Planet erwärmt sich schneller. Und wenn Regierungen Maßnahmen gegen den Klimawandel treffen wollen, dann sollten wir ihnen, basierend auf wissenschaftlichen Studien, sagen können, schaut mal, das passiert mit Schnee und Eis, und so wirkt sich das auf das weltweite Klima aus. Aber wenn wir keine konkreten Zahlen haben, also keine Schneeforschung mehr machen, dann glaubt uns ja niemand, oder? Und es geht ja nicht nur um den Schnee.
Sondern?
Es geht auch darum, zu schauen, wie sich die Änderungen von Schneemengen in der Schweiz auswirken, beispielsweise auf Wintersport und Tourismus, Wasserverfügbarkeit, Lawinen und Naturgefahren, Gletscher und Biodiversität. Das ist sehr schwierig. Dazu müssen wir die Prozesse im Schnee verstehen. Wir können zum Beispiel beim Wintersport nicht einfach sagen: Wir haben weniger Schnee, wir können weniger Ski fahren, fertig. Denn der Schneesport ist in der Schweiz eine riesige Industrie, die wir nicht einfach so ignorieren können.
In Ländern wie Deutschland fahren immer weniger Menschen Ski. Wird Schneeforschung zur Forschung für eine reiche Oberschicht?
Nein, Schneeforschung ist für uns alle relevant, denn Schnee ist ja weit mehr als bloss Grundlage zum Skifahren.
Das heisst?
Schnee hat auch eine breite gesellschaftliche Relevanz, vor allem im Alpenraum. Beispielsweise fördert Wintersport das Wohlbefinden. Also könnten Krankenkassen eigentlich auch das Skifahren, den Schneesport fördern, wie sie das bei anderen Sportarten, beispielsweise dem Velofahren oder dem Fitnessstudio machen. Aber wir sollten uns auch überlegen, wie wir Wintersport nachhaltig gestalten können, damit wir da investieren, wo es auch in zwanzig Jahren noch Sinn macht. Und dann gibt es ja noch die anderen Aspekte von Schnee, die ganzen Naturgefahren, Biodiversität, Klimawandel, Landschaft und Gletscher, Schnee in den Polargebieten. Ich meine, was passiert zum Beispiel mit den ganzen Tieren und Ökosystemen, wenn kein Schnee mehr da ist? Zudem ist Schnee wichtig für den Wasserhaushalt im Alpenraum. Wir untersuchen ja auch, was passiert, wenn dieses Reservoir kleiner wird. Und Schnee hat auch einen grossen Einfluss auf das Klima, da er einerseits den Boden oder darunterliegendes Eis isoliert und andererseits Sonnenlicht reflektiert und damit die Erde kühlt. Wir können die Schneedecke dem Kühlschrank unseres Planeten gleichstellen, und unser Kühlschrank ist langsam am zerfallen. Das betrifft alle. Damit ist hoffentlich klar, dass Schneeforschung nicht Forschung für die oberen zehntausend ist.
Du leitest die Forschungseinheit erst seit kurzem. Hast Du schon eine Idee, welche Akzente und Schwerpunkte Du setzen willst?
Ja, gerade im Zusammenhang mit dem Klimawandel müssen wir uns besser verknüpfen, sowohl interdisziplinär als auch mit der Gesellschaft und der Politik. Wir sollten uns auch mal mit Sozialwissenschaftlern, Ökonomen oder Medizinern zusammensetzen und schauen, wie wir aus dem, was wir alle in kleinen Teilen erforschen, ein grosses Ganzes machen können. Denn in den kommenden 20 bis 30 Jahren wird es viele Herausforderungen geben.
Muss Wissenschaft neutral sein, oder darf sie sich in gesellschaftliche und politische Prozesse einbringen?
Natürlich müssen Forschende sich einbringen. Wie alle anderen sind auch wir Bürger. Wissenschaft sollte dahingehend neutral sein, dass wir Wissenschaft betreiben, die Hand und Fuss hat, also unvoreingenommen alle Aspekte beleuchten, was ja auch gute Forschung ausmacht. Zu unseren Hauptaufgaben als Forschungseinrichtung gehört unter anderem, Lösungen für gesellschaftlich relevante Probleme zu entwickeln. Aber es ist auch unsere Verantwortung, unsere Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass die Menschen uns zuhören. Wenn wir als Forschende nicht gut kommunizieren, nimmt man das Klimaproblem weniger ernst. Es genügt nicht, dass wir unsere Daten und Papers abliefern und die Entscheidungsprozesse anderen überlassen. Ein Wissenschafter wird nie ein Politiker sein, wir haben ja auch unterschiedliche Aufgaben. Aber der Dialog ist wichtig. Und es ist auch unsere Verantwortung als Forschende, Themen anzuschieben. Die Wissenschaft erhält schliesslich viel Geld aus öffentlichen Mitteln. Die Gesellschaft erwartet zu Recht, dass wir ihr etwas zurückgeben. Forschung muss einen Nutzen haben, einen Mehrwert für die Menschen, und den hat sie auch.
Bleibt da noch genügend Zeit für eigene Forschung?
Hoffentlich. Sonst würde das nicht für mich funktionieren. Andernfalls hätte ich es irgendwann mal schwer, die ganzen Zusammenhänge zu erkennen. Forschung bleibt ja nicht einfach stehen. Wenn ich jetzt mehrere Jahre gar keine Forschung mache, dann kann ich irgendwann mal vielleicht nicht mehr erkennen, was wichtig ist und was weniger wichtig ist. Ich glaube, das muss man immer ein bisschen im Kopf behalten.
Abschied auf Raten
Hochmoore statt Schnee, damit startete Martin Schneebelis wissenschaftliche Karriere. 1991 beschäftigte sich der Kulturingenieur in seiner Doktorarbeit mit der Hydrologie von Hochmooren, wechselte aber noch im selben Jahr ans SLF. Von da an galt seine Liebe dem Schnee, von den Alpen bis zu den Polkappen, sowie dem Drumherum. So fotografierte er in den 90er Jahren ausgehend von spektralen Albedomessungen mit Infrarotfilmen Schneeprofile, Grundlagenforschung, aus der im Laufe der Jahrzehnte Geräte für den Markt hervorgingen. Voll in seinem Element war er, als er von Dezember 2019 bis März 2020 im Rahmen der MOSAIC-Expedition drei Monate auf dem festgefrorenen Forschungsschiff Polarstern durchs Packeis trieb. Aber ihn interessiert beispielsweise auch, warum Salzwasserfische in Süsswasservorkommen im Polareis überleben. Seit 2018 leitete Martin Schneebeli die Forschungseinheit Schnee und Atmosphäre am SLF. Am 1. Februar übergab er diese Funktion an Ruzica Dadic. Dem SLF bleibt er dennoch erhalten – beratend, erklärend und als eine Art menschliche Datenbank für Wissen über Schnee, Eis und die Geschichte der Schneeforschung.
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